Katholisches Leben in Stralsund – eine Zeitschiene bis in die Gegenwart - Episode 20

Katholisches Leben in Stralsund – eine Zeitschiene bis in die Gegenwart - Episode 20

Katholisches Leben in Stralsund – eine Zeitschiene bis in die Gegenwart - Episode 20

# Jubiläum250

Katholisches Leben in Stralsund – eine Zeitschiene bis in die Gegenwart - Episode 20

Vertreibung – Flucht von Breslau nach Stralsund
Erinnerungen von Winfried Langkavel
Aus dem Buch „Mutter mit 2 Kindern“ im Eigenverlag

Geschildert wird eine Flucht aus Breslau zum Ende des 2. Weltkriegs mit vielen Etappen. Zugfahrten, Transport in Bussen, zu Fuß, zwei kleine Kinder kommen dann mit ihrer Mutter in Stralsund an. Es ist Dezember 1945.

„In Stralsund wurden wir in ein richtiges Lager in einer Turnhalle eingewiesen. Mit vielen alten und jungen Leuten zusammen, alle - ebenso wie wir - vertrieben. Teilweise hatten sich diese Menschen mit Decken kleine Kabinen gespannt. Nur um etwas für sich und unter sich zu sein. Überall huschten noch Kinder zwischen den gespannten Wolldecken herum und spielten. Erwachsene gingen mit Töpfen herum und fragten nach Wasser. Es war ein furchtbares Durcheinander. Besonders Toiletten und Waschräume waren hoffnungslos überfüllt und in einem entsprechend unsauberen Zustand.

Man muss sich vorstellen, dass unter den Lagerbewohnern auch alte und verwirrte Menschen waren. Die sind dann zum Teil hilflos durch die Gänge und zwischen den aufgestellten Metallbetten herumgeirrt. Hier war wieder das ganze Elend eines Krieges deutlich an den Zivilisten zu sehen. Besonders an den Alten und unschuldigen Kindern. Und wir drei gehörten nun dazu. Meine Mutter muss ich noch heute bewundern. Wie sie das alles organisiert und geschafft hat: Im Lager gelebt und auf dem Boden geschlafen, zwei Kinder wollten essen, spielen und beschäftigt werden. Nebenbei ging sie noch auf die Behörde und kümmerte sich darum, dass auch wir ein Zimmer zugewiesen bekamen. Wir waren ja nun Neubürger der Stadt Stralsund, deshalb vielleicht ein bisschen mehr anspruchsberechtigt, ein Zimmer zu erhalten. Ich erwähne hier noch einmal, dass in Stralsund diese katastrophale Wohnraumnot nach Kriegsende nicht so schlimm war wie in anderen Städten. Eine besonnene Stadt -verwaltung hatte die Stadt kampflos und fast unzerstört an die Russen übergeben!

Und dann - wie schön - nach einigen Tagen wurde uns tatsächlich ein Zimmer bei einer Familie in der Straße „Am Jungfernstieg“ zugeteilt. Das Zimmer war eine mit Glas verkleidete Veranda. „Möbliert“ mit eisernen Bettgestellen, blaue Matratzen ohne Laken, keine Heizung, lausekalt. (Dezember 1945) Dazu eine verständnislose und ruppige Vermieterin! Als meine Mutter die Frau höflich fragte, ob sie für uns etwas zum Zudecken hätte, schmiss sie uns Minuten später alte Federbetten ohne Bezüge auf die Matratzen. Da haben wir noch mehr gefroren. Insgesamt gab es für uns weiterhin wenig zu essen. An „wohnen“ war hier überhaupt nicht zu denken! Mutter hat sich sofort beim Amt beschwert, daraufhin wurde uns ein kleines Zimmer in der Barther Straße zugewiesen. Was ich damals als Kind natürlich nicht wusste: Auch in Stralsund war sämtlicher Wohnraum von den Behörden konfisziert und rationiert worden.

In diesen Tagen wurde meine Mutter immer kränklicher. Die Krankheit machte sich dadurch bemerkbar, dass sie ständig dicker und unförmiger wurde. Sie konnte sich immer schlechter bewegen. Ich musste ihr helfen beim Anziehen und Schuhebinden. Die Haut war straff über den Gelenken gespannt. Jetzt konnte nur noch ein Arzt helfen. Was war mit meiner Mutter los?

Wir haben auf unseren langen Wegen bestimmt auch so manches Mal Glück gehabt. So auch hier in Stralsund!

In der gleichen Straße war nämlich ein älterer Allgemeinarzt mit seiner Praxis. Zu dem schickte man uns. Wenn ich sage wir, dann immer Mutter mit ihren beiden Kindern. Sie konnte nur noch ganz schwerfällig laufen, der Arzt diagnostizierte „Wasser“! Fast bis zum Herzen aufgestiegen. Was nun?

„Sie müssen sofort ins Krankenhaus“ sagte der Arzt. „Aber wohin mit meinen beiden Kindern“? fragte meine Mutter bestürzt, wir haben doch einen Tag vor Weihnachten!“

Der Arzt war ein guter Mensch, er sagte besonnen zu meiner Mutter; „Liebe Frau, entweder Sie sind jetzt Weihnachten bei Ihren Kindern, dann aber das letzte Mal, oder Sie gehen morgen früh sofort ins Krankenhaus, lassen sich behandeln und haben in der Zukunft die Chance, noch viele Weihnachten zusammen mit Ihren Kindern verbringen zu können. Ich weise Sie ein und versuche, für Ihre Kinder hier im Waisenhaus einen Platz zu finden“.

Erstaunlicherweise hatte er sein Telefon benutzen können, was wohl daran lag, dass in Stralsund wenig zerstört und er Arzt war! Der Doktor hat unserer Mutter mit dieser hart klingenden Maßnahme sicherlich im letzten Moment das Leben gerettet und uns Kindern die Mutter erhalten.

Im Waisenheim St. Josef im Jungfernstieg in Stralsund
Erinnerungen von Winfried Langkavel
Aus dem Buch „Mutter mit 2 Kindern“ im Eigenverlag

Der nächste Tag! Es war genau der 24. Dezember1945 – Heiligabend. Welch eine Situation für uns Kinder - Mami nicht mehr bei uns, auf dem Weg ins Krankenhaus. Gerhild und ich - ab ins Waisenhaus- Frohe Weihnachten!

Es war ein Heim, von Ordensschwestern geführt! Zugehörig zum katholischen St. Josef-Heim in Stralsund. Das Gebäude selbst war 1874 als Fabrikgebäude für eine Weberei errichtet worden und wurde durch das Mutterhaus der Borromäerinnen in Trebnitz etwa1922 gekauft. Viele Umbauten waren notwendig, bis das als Diaspora- Schwesternheim gedachte Gebäude zu einem katholischen Kinder- und Schwesternheim umfunktioniert wurde. Bereits im Winter 1927/28 wohnten 65 Waisenkinder, 25 Kommunikantenkinder und sieben Ordensschwestern dort.

Auch als Gerhild und ich 1945 dort eingewiesen wurden, galt: Jungen und Mädchen getrennt - in verschiedenen Etagen. Die Betten im Schlafsaal wurden meist mit zwei Kindern belegt, eines mit dem Kopf nach oben, das andere Kind andersherum. Nur die größeren und älteren Kinder hatten ein Bett für sich. Aus heutiger Sicht bewundere ich das Heim für seine Verdienste um arme Kinder mehr denn je.

Bereits in einem Bittbrief des Kinderheimes von Weihnachten 1929 heißt es:

„Wie sollen wir Kinder ernähren? Was kann ein Vater, der als Kutscher auf einem Gut ganze 25,- Reichsmark am Monat in der Hand hält, für seine Kinder - die hier als Kommunikanten leben – abzweigen?“

Die Armut war besonders hier im Küstengebiet sehr groß. Das Waisenhaus kämpfte mit seinen bescheidenen Mitteln dagegen an.

Jetzt kamen wir als Vertriebene aus dem Osten dazu! Keine leichte Aufgabe für das Heim. Und deshalb sei hier noch einmal ausdrücklich vermerkt: Ohne Vorbehalt wegen unserer Konfession wurden wir sofort aufgenommen! Danke noch heute dafür.

Hier wurde gerade in der großen Nachkriegsarmut spontan geholfen! Nicht nur die Mittellosigkeit des Heimes war ein Problem, sondern auch die vielen Vermisstenschicksale, von denen die Kinder oft betroffen waren.  Sie brauchten einfühlsame und verständnisvolle Personen, die ihnen über ihre schwere Lage hinweghelfen konnten. In dieser Schicksals-Situation waren sie hier im Waisenhaus gut aufgehoben.

Damals, am Heiligen Abend 1945, gab es im Waisenhaus eine Weihnachtsfeier im Saal. Lange Tische waren aufgebaut und mit Tannenzweigen geschmückt. Zu Beginn wurde erst gebetet und gesungen. Danach konnten alle Kinder an ihren Platz gehen. Dieser war mit Namensschildern gekennzeichnet. Die Erstürmung der Plätze durfte aber dann auch erst auf den Wink einer Schwester erfolgen. Jeder Platz hatte auf dem Tisch einen Weihnachtsteller mit Plätzchen und ein kleines Spielzeug. Nach all den negativen Erlebnissen auf der Flucht und im Lager war das für uns endlich wieder eine heile Welt!

Ich kann mich nicht mehr erinnern, ob Gerhild auch bei denen war, die beschenkt wurden. Wahrscheinlich ja! Nur vielleicht nicht in dem gleichen Raum, weil Jungen und Mädchen allzeit streng getrennt waren! Alle Plätze waren mit Namen gekennzeichnet, es gab sogar einen Platz mit „Winfried“. Aber wie ich schon meinen Teller und ein kleines Geschenk in der Hand hielt, kam eine Schwester und nahm mir alles wieder weg. Ein anderer Winfried war gemeint! Tränen am Heiligen Abend!

Im Schlafsaal war es nachts bitterkalt, die Decke zum zudecken war dünn. Eine Heizung gab es nicht, nur ein gusseiserner, einfacher Kohle-Ofen stand mitten im Raum, der tagsüber manchmal beheizt wurde. Brennmaterial war rationiert und knapp. Das lange Ofenrohr hing bis zum Kamin knapp unter der Decke und sollte so noch zusätzlich Wärme spenden – wenn er in Betrieb war. Das Waisenhaus hatte aber dennoch den Vorteil, dass es auch in der Besatzungszeit unter den Russen noch dürftig mit Brennmaterial beliefert worden ist.

Die Kinder im Waisenhaus waren zwangsläufig sehr gemischt. Das heißt: einige waren Vollwaisen, andere Halbwaisen. Gerhild und ich gehörten zu den Ausnahmen. Denn Mutter lebte ja und der Vater war nur vermisst. Wir waren also gar keine richtigen Waisen, im Gegensatz zu vielen großen und kleinen Kindern hier!

Und trotzdem sind wir in unserer Notlage von der Oberin des Waisenhauses Heiligabend 1945 aufgenommen worden - ohne viel Bürokratie! Gerhild und ich lebten zum ersten Mal dauerhaft in einer solchen Gemeinschaft. Jeden Morgen gingen wir Kinder in die Hauskapelle. Dort war es auf alle Fälle erst einmal schön warm. Den Ablauf eines katholischen Gottesdienstes hatte ich schnell erfasst. Noch eher aber Gerhild, die mit 3 Jahren und dem bisher Erlebten, schnell gelernt hatte, sich auf neue Situationen einzustellen. Kinder sind im Allgemeinen sehr flexible und extrem schnell aufnahmefähig.

Der Besuch in der sehr schönen Kapelle war immer freiwillig. Obwohl man im Heim wusste, dass Gerhild und ich evangelisch waren, haben wir nie Unterschiede in der Behandlung erfahren.

Es war Januar 1946, russische Besatzung. In Stralsund extreme Kälte  und wenig zu essen. Was wir im Waisenhaus zum Frühstück gegessen haben, weiß ich nicht mehr so genau. Aber ich glaube, Brot war für alle ausreichend vorhanden und Sirup, alles von den Schwestern selbst gemacht. Mittags gab es meistens eine Suppe mit Kartoffeln und in Würfel geschnittene Kohlrübenstückchen, hier an der Küste „Wruken“ genannt. Oftmals hatte die Suppe wenig oder keine Fettaugen. Wo sollten die Schwestern denn auch für die vielen hungrigen, heranwachsenden Kinder Fett und Fleisch für die Wrukensuppe herbekommen? Zuerst wurden damals in dem ganzen Versorgungssystem die Russen bedient. Täglich führten uns die Ordensschwestern spazieren, damit wir ausreichend Bewegung in frischer Luft hatten – Jungen und Mädchen aber auch hier getrennt.

Die ältesten Kinder waren bis zu 14 oder 15 Jahre alt. Teilweise verloren sie ihre Angehörigen in den Kriegswirren im Osten Deutschlands oder in Ostpreußen schon in den Jahren 1943 und 1944. Manche waren durch die brutalen Kriegsereignisse in ihrer Heimat stark traumatisiert.

Die Ordensschwestern hatten viel zu leisten, um neben der nicht einfachen täglichen Arbeit diese Kinder und Jugendlichen über den Verlust ihrer Eltern und Verwandten zu trösten und hinwegzubringen.

Drei  Monate insgesamt war meine Mutter in stationärer Behandlung und wir im Waisenhaus.

Autor: Roland Steinfurth
Korrektur: Wolfgang Vogt
Gemeinde Hl. Dreifaltigkeit Stralsund

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